Gemeinsam oder einsam
Wir stellen uns die Gemeinschaft gern als Kreis vor, dem viele Einzelne beitreten können. Diese Einzelnen betrachten wir dabei als voneinander getrennte Subjekte. Um ihre Einsamkeit jeweils zu überwinden, gehen diese Subjekte Beziehungen ein, gründen Familien oder suchen nach einer bestimmten Gemeinschaftsform, wie zum Beispiel einem Verein, wo sie Mitglieder werden.
Gegenüber einer solchen «aufgeklärten» Sichtweise auf die Position der Einzelnen formiert sich ein spirituelles oder auch religiöses Denken, das – in Variationen – das Getrenntsein als Illusion sieht und Vorschläge zur Überwindung dieser Illusion macht. Meist wird dabei eine Seele angenommen, die gleichsam überindividuell an einem grösseren Ganzen teilhat, unabhängig von Raum und Zeit. Wobei spirituelle Techniken teilweise durchaus Übungen des Alleinseins sind und waren. Im Extremfall liessen sich Meditierende einmauern, um sich endgültig von allem Weltlichen abzukehren. Solche Übungen oder Techniken der Askese beschreibt der Philosoph Peter Sloterdijk in seinem Buch «Du musst dein Leben ändern». Die darin aufgeführten Praktiken der letzten 2000 Jahre zeigen zudem, dass das Wort «Übung» sinnigerweise eine Übersetzung aus dem Griechischen áskēsis ist, das wiederum vom altgriechischen Verb askeín – «üben» abstammt.
Zwei gegensätzliche Menschenbilder
So stehen sich – sehr knapp dargelegt – zwei Menschenbilder gegenüber. Das frei handelnde, aufgeklärte, abgetrennte, nicht religiöse Subjekt und Individuum versus einem Seelenträger, dessen Körper nicht die letztgültige Grenze darstellt, sondern lediglich ein Aspekt oder eine Hülle bildet, die irgendwann abgestreift wird, samt individueller Geschichte und allen Ego-Identifikationen.
Jetzt stellt sich die Frage: Gibt es hier nur ein Entweder – Oder? Können wir nicht sagen: Blosse Verbundenheit im irdischen Dasein ist genauso illusorisch wie die Annahme eines letztgültigen Getrenntseins?
Interessant dürfte ein Blick auf den Schamanismus sein. Dieser ist weder Religion noch logozentrische Lehre, sondern die älteste Heiltradition der Menschheit und reicht wohl bis in die Steinzeit zurück. Schamaninnen und Schamanen stellen sich in den Dienst der Gemeinschaft und versuchen, Kraft und Informationen aus einer Parallelwelt, einer nicht-alltäglichen Wirklichkeit, zu holen. Sie vermitteln zwischen der Welt der Menschen und jener der Geister. Als Geister sind immaterielle Prinzipien oder Wesen zu verstehen, die bestimmte Kräfte und Qualitäten besitzen. Schamaninnen und Schamanen arbeiten mit ihren persönlichen geistigen Helfern, ihren Verbündeten, vertrauensvoll zusammen. Diese Anderswelt wird nicht abgekoppelt von unserem Alltag angenommen, sondern als Teil von diesem. Zudem gilt die ganze Natur sowie Steine, Landschaften und Himmelskörper als beseelt. Schamaninnen und Schamanen begleiten Menschen etwa in Übergangssituationen, wie Geburt oder Tod und auch bei Krankheiten. Spannend an dieser Weltsicht ist, dass sie zu einer Verbundenheit und zu Respekt mit allem und jedem führt.
Wir ertrinken in uns
Diese Überlegungen zeigen vor allem eines: Das jeweilige Weltbild beeinflusst, ob und wie wir uns abgetrennt sehen. Das aufgeklärte kapitalistische Weltbild hat uns letztlich eine Gesellschaft gebracht, in der sich lauter Einzelne gegeneinander behaupten oder gar die Anderen als Andere nicht mehr wahrgenommen werden. Der Philosoph Byung-Chul Han sagt dazu: «Es ist ein fatales Kennzeichen der immer narzisstischer werdenden Gesellschaft, dass der Andere unbemerkt verschwindet. Die Müdigkeitsgesellschaft, in der man erschöpft von sich selbst ist, ohne sich zum anderen hin befreien zu können, ist eine Gesellschaft ohne Eros.» Demnach ertrinken wir als spätmoderne Subjekte quasi in uns selbst. Doch in der Lebenspraxis geht nun mal vieles gemeinsam besser als allein: Aus dieser Sackgasse heraus zu finden, ist eine der grossen Herausforderungen der Gegenwart.
Dominique Zimmermann
Michael Harner: Der Weg des Schamanen – Das praktische Grundlagenwerk zum Schamanismus, 2011; Original 1980.
Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, 2012.
Byung-Chul Han: Agonie des Eros, 2017.