Gemeinschaft nach Corona
Ein langer Weg bis zur Normalität
Nach der Corona-Zeit, in der man wie auf Sparflamme lebte, will ich endlich wieder Gemeinschaft spüren können. Lange Wochen hatte ich nur den kurzen Kontakt mit der Kassiererin des Supermarktes. Der Mitarbeiter, den ich frage, wo die Buttermilch steht, weicht einen Schritt zurück, wenn ich ihn anspreche. Den Postboten sah ich nur von weitem und meine Nachbarn huschten schnell in ihre Wohnungen. Die Tramchauffeure waren hinter Scheiben und jeder Schwatz mit einem Mitreisenden wurde beinahe mit einer Flucht beantwortet. Cafes oder Restaurants waren geschlossen, ich konnte nirgendwo hin. Viele meiner Freunde und Bekannten wollten aus Angst vor Ansteckung nicht mit mir Wandern gehen oder sich in 2 m Distanz mit mir treffen. Es wurde mir bewusst, wie sehr ich all diese Begegnungen brauche um ein Gefühl von Gemeinschaft zu bekommen. Übrig blieb nur das Telefon. Aber ein Telefongespräch ist so etwas anderes, als den anderen Menschen mit seinen eigenen Augen sehen, spüren, riechen, seine Mimik und Gestik wahrnehmen.
Beglückender Austausch
Als ich nach langer Abstinenz wieder eine Person aus meinem Chor oder aus dem Tango-Kurs auf der Strasse treffe, bin ich glücklich. Ich realisiere, wie wichtig der direkte Austausch mit Menschen für mich ist. Am liebsten möchte ich ihnen um den Hals fallen und sie freudig begrüssen. Komisch ist nur, dass ich bei der Begrüssung dem anderen nicht die Hand geben soll. Dass ich ihn nicht umarmen soll oder gar einen Kuss auf die Backe drücken darf wenn man sich nicht der Gefahr aussetzen will, sich mit Corona zu infizieren. Und wenn ich dann diese neuartigen Begrüssungsrituale wie Fuss an Fuss oder Ellenbogen an Ellenbogen sehe, denke ich mit Wehmut an die Umarmungen und Luftküsse.
In meiner Schule ist es beinahe wie im Militär. Vor dem Sekretariat sind zwei Türen. Die eine zum Hineingehen, die andere zum Herausgehen. Am Boden Markierungen, wie weit die Menschen vor dem Info-Schalter auseinanderstehen müssen und vor den Schaltern stehen Plastiktrennwände um den sog. «Spuck-Kontakt» zu vermeiden. Spucken tun die Interessenten nicht. Aber vor den Tröpfchen beim Sprechen soll man sich sehr in Acht nehmen. Denn die sollen ja die Corona-Viren von Mensch zu Mensch transportieren.
Grosse Ansteckungsangst
Von den sechzehn Schülern, die vor der Corona-Zeit im Deutschkurs waren, kommen nach der Öffnung der Schulen und Universitäten nur noch fünf zurück in den Kurs. Zu gross ist die Angst vor Ansteckung. An den Tischen darf nur eine Person sitzen, die Tische sind mindestens zwei Meter auseinander und jeder Lehrer hat sein eigenes Set mit Wandtafelschreibern bekommen. Die Kurse fangen versetzt an, so dass es keine Gruppen im Hausflur gibt und im Lift darf nur eine Person fahren, Pausen gibt es keine und der Kaffeeautomat mottet vor sich hin. Auch Gruppenarbeiten, bei denen die Schüler sich austauschen und miteinander diskutieren, sind verboten. Erlaubt ist nur Frontalunterricht.
Towa, der aus Aserbeidschan stammende Ingenieur, hört schlecht und setzt sich an den Tisch, der dem Lehrerpult am nächsten ist. Hinter ihm sitzt Maria, die früher eine gesellige und fröhliche Italienerin war. Heute sitzt sie geduckt auf ihrem Platz, nichts von italienischer Fröhlichkeit ist um sie. Tebregay der junge 21-jährige Mann aus Eritrea desinfiziert vor dem Unterricht nicht nur die Stuhllehne, sondern auch den schon vom Lehrer desinfizierten Tisch, dann sein Handy und dann noch seine Hände zum x-ten Mal. Henry aus dem Elsass ist Krankenpfleger und kennt sich mit Hygieneregeln aus. Nicolas aus Griechenland nimmt die Regeln ganz locker und spricht über die 2 m hinweg laut mit seinem aserbeidschanischen Nachbarn.
Nach dem Unterricht wird nicht nur die Tafel mit Desinfektionsmittel geputzt, sondern auch die Tastatur des Computers. Trotz Kälteeinbruch im eigentlich warmen Juni-Wetter müssen die Fenster geöffnet sein, so dass man vor lauter Lärm von vorbeifahrenden Trams das eigene Wort nicht versteht. Ja, das gemeinsame Zusammensein wird sich nur langsam wieder erwärmen.
Dragica Marcius