Das Hier und Jetzt auf der Endstation
Der Umzug aus den eigenen vier Wänden ins betreute Wohnen ein ist ein heikler Schritt. Mutter und Tochter schildern das Ankommen in der Senevita Erlenmatt aus ihrer Sicht.
Radikal verkleinert hat meine Mutter ihren Haushalt für den Umzug - ein Neuanfang, sagt sie, wie damals, als sie von zuhause ausgezogen war. Was bleibt, sind Erinnerungen an das Familienhaus und Kisten im neuen Heim. Ich begleite diesen Übergang im Bewusstsein: ich bin die Nächste in der Reihe. Wie schafft man so etwas mit über 80 Jahren, frage ich sie. Als Antwort schreibt sie mir kleine Szenen aus ihrem Alltag, aus dem, was ist, und was noch kommt.
Theater
Mit Krachen knallt das Skateboard auf den Beton, ein Schleifen und Kirschen, schon hebt es wieder ab. Dafür ist das Betonbecken auf dem Max-Kämpf-Platz ideal. Die Skater und die jungen Familien teilen sich in diesem Sommer den Platz mit den ausgedörrten Grasflächen und den Bäumchen, die erst noch wachsen wollen.
An einem Nachmittag steht ein Polizist den Pensionärinnen und Pensionären für Fragen zur Verfügung. Thema ist das Leben im Quartier. Ein uraltes Theaterspiel erlebe ich, Lärm gegen Blumen, jung gegen alt - das unermüdliche Spiel draussen finde ich lebendiger.
Endstation
Der grosse Lift darf momentan nur zu zweit benutzt werden – eine Corona-Massnahme. Es bildet sich eine Schlange mit sechs Rollatoren. Endlich bin ich an der Reihe. «Warten ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung», sage ich. Trocken meint ein Herr: «Was tun wir denn den ganzen Tag auf der Endstation»!
1. August - für Feste gibt es kein Verfalldatum
Lampions, Fähnchen und kalte Platte - begleitet von Schlagern, launig eingeleitet vom Sänger und Unterhalter. Wir sitzen unter den Arkaden, und sind in Feststimmung. Nach dem Essen wird getanzt, einzeln, zu zweit in Polonaise oder im fröhlichen Durcheinander. So ist das Hier und Jetzt auf der «Endstation»
Freut euch des Lebens
Wir singen «Freut euch des Lebens» mit Begeisterung. Von meiner Nachbarin, eine schöne alte Dame mit leeren Augen kommt langsam eine Hand, greift die meine und wir singen, «solang das Lämpchen glüht». Ihr Lächeln erlischt wieder, aber einen kurzen Moment fühlten wir uns lebendig.
Meine Mutter kann sich nur noch mit einem Elektrogefährt fortbewegen - sie erkundet Wege in der fremden Umgebung, umschifft Hindernisse, wo Fussgänger keine sehen, strandet, kehrt um und fängt beharrlich von Neuem an.
Stein und Eisen bricht
Der stark befahrene Veloweg führt den Bach entlang unter alten Brücken durch, doppelte Strassen über mir. Ein Gewirr von Verkehrswegen über den in Katarakte geschachtelten Fluss. Die Eisenbrücke ist auf Felsbrocken gebaut und mit Kletterpflanzen bewachsen – zum Dauern gebaut und vor dem Zerfall nicht gefeit.
Sonntagsausflug
Die Damen erweisen dem Sonntagsessen mit der besten Garderobe die Ehre. Meine Tischnachbarin sieht nur noch Schatten, möchte aber das Rauschen der Bäume hören. Also los, sage ich. Minuten später steht sie mit guten Schuhen vor der Tür.
Mein Gefährt ist ihre Leitplanke, ich erzähle, was ich sehe. Man lächelt uns zu, der Lahmen mit der Blinden im Schlepptau. Stolze 4,5 Kilometer schaffen wir. Eine sportliche Leistung - besonders für meine Begleiterin.
Der Sommer liegt hinter uns, im Regen strahlt das Gras in sattem Grün. Wir gehen wieder der Wiese entlang. Im realen Leben trennt uns eine räumliche Distanz. Warum ich sie trotz der Autobahnkilometer regelmässig besuche, will meine Mutter wissen. «Aus Neugier», antworte ich. «Von wem soll ich sonst das Nichtmehrkönnen, Trotzdemtun und Abschiednehmen lernen»?
Annelis Dickmann