Endlichkeit

„Das Leben ist kurz wie ein Mäuseschwänzchen“, pflegte Oma immer zu sagen. Aber was es bedeutete, wusste ich damals, als ich Kind war, nicht. In der Kindheit und Jugend haben wir nur die unendliche Zeit vor uns. „Ich will gross werden, ich will Lokführer oder Krankenschwester werden, ich will mein Studium abschliessen, ich will einen guten Job finden, ich will eine Familie gründen, ich will ein Haus oder eine Wohnung kaufen, ich will nach Kuba oder Griechenland fliegen, ich will diesen oder jenen Weiterbildungskurs machen…“ Unser Leben ist in dieser Zeit der Zielgeraden von Wunschvorstellungen bestimmt. Von Zielen, von Errungenschaften geistiger oder materieller Art.

Irgendwann, zuerst unmerklich beginnt das Blatt sich zu wenden. Wir haben die Lehre oder das Studium beendet, wir haben einen guten Job gefunden, haben vielleicht sogar Karriere gemacht, haben eine Familie gegründet, haben vielleicht sogar Wohnungseigentum oder eine Liegenschaft, sind in Kuba oder Griechenland gewesen. Welche Pläne haben wir nun? Eine Kreuzfahrt nach Alaska? Einen Englischkurs bei der Volkshochschule? Pilates, Yoga oder doch lieber ein Abonnement im Fitnessklub? Noch ein grösseres Auto, noch eine ausgefallenere Reise….?

Der 40. Geburtstag naht

Der 40. Geburtstag naht. Wir realisieren die ersten grauen Haare, die ersten tieferen Falten und erschrecken, sind beinahe empört. Was, die Vergänglichlichkeit wagt es, an meine Tür zu klopfen? Der 50. Geburtstag kommt mit Vehemenz. Wenn es gut geht, wird es ein gelungenes Fest mit fröhlich feiernden Freunden und Verwandten werden. Aber die eine oder andere Stelle im Körper schmerzt, die Vorsorgeuntersuchungen für Brust-, Prostata- oder Darmkrebs stehen an. Langsam aber sicher kommt Panik bei jedem Geburtstag auf. Die berühmt-berüchtigte Midlife-Crisis kommt. Männer wie Frauen stürzen sich oft in Aktivitäten und Abenteuer, manchmal auch in Affären. Sie betreiben Fitness bis zum Umfallen, machen oft Extremsport oder ziehen sich in eine innere Meditationswelt zurück. Das Alter und die mögliche Hinfälligkeit werden immer bewusster. Nein, ich habe doch viel Sport gemacht, ich werde nicht alt und gebrechlich usw. versuchen wir uns einzureden.

Der Zeiger tickt, die Zeit schreitet voran und langsam aber sicher kommen wir nicht umhin, uns mit dem Tod zu befassen. Wenn ich tot bin, bin ich dann weg? Weg von was? Wo bin ich dann? Gibt es eine Wiedergeburt oder nicht? Was passiert, wenn wir der Endlichkeit unseres Lebens Aug in Aug gegenüberstehen? Ach, ich will da nicht hinschauen, höre ich mich sagen. Aber dann fällt mir der lapidare Spruch eines Freundes ein: „Es gibt ja auch ein Leben vor dem Tod!“. Ja, ich glaube, dieses Leben vor dem Tod ist das wesentliche Leben. Und dieses Leben gilt es in seiner ganzen Fülle zu leben. Sich das Leben im wortwörtlichen Sinne zu nehmen und sich zu eigen zu machen. Und wie sagte schon der alte griechische Philosoph Epikur: „Wenn ich nicht weiss, was vor der Geburt war, warum sollte es mich kümmern, was nach dem Tod ist?“

Dragica Marcius

12-2020 DragicaMarcius Alter